Frau Staatssekretärin Barbara Kisseler

Grußwort anlässlich der Matinée-Veranstaltung "Denkraum Politik - Hannah Arendt zum 100.Geburtstag" der Ausstellung "Hannah Arendt Denkraum" Sonntag 15. 10. 06, 12.00 Uhr

Sehr geehrter Herr Odenthal,
sehr geehrter Herr Professor Saner,
sehr geehrter Herr Dr. Joffe,
sehr geehrter Herr Dr. Heuer,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

wenn wir heute den 100. Geburtstag von Hannah Arendt feiern, ehren wir mit ihr eine der wenigen Frauen unter den großen Denkern und Philosophen des 20. Jahrhunderts. Eine Philosophin zu sein, hat Hannah Arendt allerdings selbst vehement bestritten, und zwar weil sie, wie sie in einem Interview mit Günter Gaus sagte, "die Politik mit gewissermaßen von der Philosophie ungetrübten Augen" sehen wollte. Ihr Geschäft sei das der politischen Theorie, wie überhaupt die Unterscheidung von Philosophie und Politik ein zentraler Topos in ihren Schriften ist.
Die Kraft ihres Denkens mindert diese Selbsteinschätzung in keiner Weise. Denken, dass hieß bei Hannah Arendt nicht primär abstrakte Schlussfolgerungen ziehen oder Modelle begreifen, sondern vor allem kritisches Hinterfragen, die Zerstörung von Regeln und Klischees. Als wesentlichen Bestandteil des Urteilens sieht sie die so genannte "erweiterte" Denkungsart, das heißt die wichtige Fähigkeit, sich in die Perspektive der anderen hinein zu versetzen.
Diese Fähigkeit hat Hannah Arendt selbst in hervorragendem Maß besessen und sie hat mit ihrem scharfsinnigen und eigenwilligen Denken die gängigen Einteilungen in der politischen Theorie durcheinandergebracht. Ohne Rücksicht auf vermeintliche oder echte Empfindlichkeiten urteilte sie "kräftig", wie sie es selbst einmal formulierte; man denke nur an ihre Bewertung der Rolle der Judenräte im Eichmann Bericht, oder an die fast schon zum Synonym für die Grausamkeiten des Naziregimes gewordene Formulierung von der "Banalität des Bösen", die als Verharmlosung des Genozid missverstanden wurde.
Ihr klares, unbestechliches Urteil verstörte viele, insbesondere in den Nachkriegsjahren, als die Emigrantin das erste Mal in ihr Herkunftsland (von Heimat hätte sie nicht vorbehaltlos gesprochen) zurückkehrte. In dieser Zeit, von August 1949 bis März 1950, diagnostizierte sie vor allem "Flucht vor der Wirklichkeit", die sich in Apathie und Gefühllosigkeit äußert. Was sie damals z.B. an ihren Ehemann Heinrich Blücher schrieb, lohnt die Erinnerung: "Liebster, ich sitze in Bonn - was abgesehen vom Bundesrummel eine hübsche Stadt ist. ... Weißt Du eigentlich, wie recht Du hattest, nie wieder zurück zu wollen? Die Sentimentalität bleibt einem im Halse stecken, nachdem sie einem erst in die Kehle gestiegen ist. Die Deutschen leben von der Lebenslüge und der Dummheit. Letztere stinkt zum Himmel. Wenn du hier eine Woche lang sämtliche Zeitungen von rechts bis links gelesen hast, dann bist du reif für die Rückfahrt."
Die Berliner und ihre Stadt, in der Hannah Arendt von 1929 bis zu ihrer Flucht 1933 lebte, werden von ihr hingegen geradezu liebevoll beschrieben: "Es gibt natürlich auch viele Deutsche, auf die diese Beschreibung nicht zutrifft. Vor allem gibt es da Berlin, dessen Bevölkerung inmitten der schrecklichsten materiellen Zerstörung nicht zu erschüttern war. Ich weiß nicht, warum sich das so verhält, aber Sitten und Gebräuche, Redeweise und Umgangsformen sind bis ins kleinste Detail so anders als alles, was man im übrigen Deutschland zu Gesicht bekommt, dass Berlin schon fast wie ein anderes Land wirkt. Es gibt kein verlegenes Verhalten und kein Schuldgefühl, sondern es wird offen und detailliert geschildert, was den Berliner Juden bei Kriegsausbruch zustieß. (…) Es ist kaum zu glauben, aber es scheint etwas dran zu sein an der Behauptung der Berliner, dass Hitler sie niemals völlig erobern konnte. Sie sind erstaunlich gut informiert und haben sich ihren Sinn für Humor und die ihnen eigene schnodderige Freundlichkeit bewahrt. (…) Berlin stellt eine Ausnahme dar, doch leider keine sehr bedeutende." Dieses Zitat enthält zwei Momente, die sich auch in anderen Schriften wiederfinden, die für das Verständnis des Werkes von Hannah Arendt von Bedeutung sind und die, wenn ich es richtig sehe, auch für die heutige Ausstellung und das Verständnis der Kunst, die wir sehen, durchaus von Belang sind. Erstens der Bezug auf "Sitten und Gebräuche". Sitten und Gebräuche, sind es, die nach Hannah Arendt für eine gewisse Zeit übrig bleiben, wenn die politischen Institutionen versagt haben. "Solange sie intakt sind, verhalten sich Menschen als private Individuen weiterhin entsprechend bestimmten Mustern der Moral." Und zweitens den Hang zum starken, zum schwarzen Humor bis hin zum Sarkasmus, den Arendt für geradezu lebensnotwendig notwendig hielt. Meine Damen und Herren, es verwundert nicht, dass diese Frau von ihren Zeitgenossen nicht angemessen gewürdigt wurde, obwohl sie mit ihrer Totalitarismustheorie 1951 und dem Eichmann-Buch international Renommee erworben hatte. Das eigentliche Zentrum ihres Werks, der Begriff des "Politischen" trat erst mit der Wende nach 1989 in das europäische und deutsche Blickfeld, und dass Arendt von einer umstrittenen Denkerin zu einer "Klassikerin der modernen politischen Theorie" avancierte (Bluhm) liegt vermutlich daran, dass dieser Begriff so gegen die gängigen heutigen Vorstellungen von Politik verstößt, dass er immer noch eine unglaubliche Quelle für Inspirationen darstellt.(…) Allerdings, glaube ich, war das damalige ideologische Interesse als movens arg durchsichtig: man wollte gerne die DDR neben Nationalsozialismus und Stalinismus als erledigten Vorgang abhaken.
Dennoch, stünde es Berlin gut an, meine ich, wenn sich Politiker mit dem Arendt´schen Verständnis von Politik stärker auseinander setzten und sich politische Handlungen nicht ausschließlich von Sachzwängen und politischem Kalkül diktieren ließen. Denken bevor man handelt, hat ja eigentlich noch nie geschadet. Was hat Kunst mit alledem zu tun ? Eine ganze Menge. "Wenn das Denken aus dem Sichtbaren seine Begriffe schöpft um das Unsichtbare zu bezeichnen", so ein letztes Zitat der zu Ehrenden, so liegt hier die Kraft des Gegenständlichen und mithin auch der bildenden Kunst. Es geht darum, mit dem Sichtbaren Denkanstöße zu geben. Es liegt an jedem von uns, diese zuzulassen.