Dr. Wolfgang Heuer

Aus der Begrüßungsrede am 15. 10. 2006

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

ich möchte Sie im Namen des Vereins "Hannah Arendt Denkraum" herzlich zu unserer Matinée begrüßen. Gestern, zum 100. Geburtstag Hannah Arendts, haben wir in den Räumen der ehemaligen jüdischen Mädchenschule die internationale Kunstausstellung "Hannah Arendt Denkraum" eröffnet.
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Hannah Arendt ist eine der beeindruckendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Beunruhigend in ihren Analysen, unbequem in ihren Stellungnahmen zum Zeitgeschehen und nicht einzuordnen in die üblichen wissenschaftlichen Disziplinen:

- beunruhigend nach wie vor ihre These von der Banalität des Bösen, beunruhigend auch ihre Analyse des Totalitarismus, dessen Elemente und Ursprünge Arendt nicht nur in der vor-totalitären Gesellschaft verortete, sondern auch in der nach-totalitären, also auch der unsrigen.

- Unbequem z.B. mit ihrer Analyse der Verführungskraft der Lüge in der Politik - Arendt verdeutlichte das an der amerikanischen Politik z.Zt. des Vietnamkriegs, der ihrer Ansicht nach nicht aus imperialen Gründen geführt wurde, sondern vor allem aus Image-Gründen, es ging um das Image der Unbesiegbarkeit einer Supermacht.

- Und schließlich - nicht einzuordnen in die wissenschaftlichen Disziplinen: Arendt war lange Zeit der Politologie nicht politologisch genug, der Philosophie zu wenig philosophisch und für die Geschichtswissenschaft nicht ausreichend wissenschaftlich.

Arendts Aussagen zu Staatenlosen und Flüchtlingen und ihre Kritik an politischer Bürokratie als der Herrschaft des Niemand sind nach wie vor aktuell. Die Unruhe, die Arendt verbreitet, macht sie glücklicherweise zu sperrig, um als Klassikerin ins Regal gestellt zu werden. Sie ist dafür, auch als Person, noch 25 Jahre nach ihrem Tod viel zu präsent. Ihr 100. Geburtstag ist also glücklicherweise kein Anlass für eine abschließende Rückschau, sondern umgekehrt Anlass, sich mit der Geburt eines neuen Denkraums zu befassen, der mit Arendt in die Welt kam.

In dieser Woche ist ungewöhnlich viel über Hannah Arendt berichtet worden. Das liegt, so scheint mit, nicht nur an ihrem Geburtstag, sondern auch daran, dass ihr Denken aktueller geworden ist. Sie selber sagte einmal, dass sie eine Art von Witzen mache, die immer erst viel später verstanden würden. Wir nähern uns diesem Denken an, wir beginnen, dessen Witz zu verstehen, seit die Moderne des 20. Jahrhunderts an ihr Ende gekommen ist. Ein Jahrhundert der Weltkriege, der totalitären Regime und ihrer Ideologien, des Holocausts, der Atombombe und der Definition des Menschseins durch Arbeit. Hannah Arendt hat die Phänomene dieses Jahrhunderts analysiert und kritisiert, ohne in ihrer Kritik den Denkformen des 20. Jahrhunderts - links oder rechts, Liberalismus oder Sozialismus - verhaftet zu bleiben.

Ich hoffe, dass die Ausstellung, in der Künstlerinnen und Künstler Hannah Arendt begegnen, diesen Denkraum lebendig werden lassen. Ich möchte Sie natürlich alle herzlich einladen, diese Ausstellung zu besuchen.
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Hannah Arendts Geburtstag: Das Jahrhundert eines Denkraums

Was ist ein Denkraum?
"Ich war immer der Meinung," sagte Arendt wenige Jahre vor ihrem Tod in einer Diskussion mit Freunden und Kollegen, "dass man so zu denken anfangen müsste, als wenn niemand zuvor gedacht hätte, und erst anschließend beginnen sollte, von den anderen zu lernen."

Ein Raum, den sich Arendt mit ihrer Art zu denken schuf. Ein Raum aber zugleich der Kommunikation, des Zwiegesprächs mit sich selbst, aber auch mit anderen. Ein Raum der Pluralität, der Öffentlichkeit, der Zwischenmenschlichkeit, in dem allein Freiheit, Politik und Macht entstehen können. Ein Raum also der Offenheit.

Als Hannah Arendt über ihren Freund Walter Benjamin schrieb, beschrieb sie auch ihre eigene Art, sich in einer Welt ohne Tradition zu orientieren:

"Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht er in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen. Was dies Denken leistet, ist die Überzeugung, das zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, dass aber der Verwesungsprozess gleichzeitig ein Kristallisationsprozess ist; dass in der <Meereshut> (...) neue kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern und nur auf den Perlentaucher warten ,der sie an den Tag bringt. (...)

Was heißt dies anderes, als dass Benjamin Sprache überhaupt von der Dichtung her verstand? (...) Wir haben es bei ihm mit etwas zu tun, was nun in der Tat, wenn nicht einzigartig, so doch äußerst selten ist - mit der Gabe, dichterisch zu denken."

Von solchen Tauchvorgängen und dichterischen Denkakten ist auch Hannah Arendts Werk gekennzeichnet. Es ist das Essayistische, das Bildhafte ihrer Sprache, mit dem sie das Neue, Unerwartete, Traditionslose zu verstehen versuchte. Es sind Denkbilder, die nicht so komprimiert sind wie Aphorismen und sich gänzlich von deren gelegentlicher Gewaltsamkeit unterscheiden. Aber sie sind auch dichter als die zahlreichen Gedanken, die Arendt in ihrem Werk von verschiedenen Seiten aus beleuchtend entfaltet. Das Offene der Essays und das Bildhafte der zu Kristallen verdichteten Gedanken haben Sebastian Hefti und mich fasziniert. Es handelt sich nicht um den bloßen Stil der Autorin, nicht um ein Beiwerk, sondern um den Kern ihres Denkens selber.

Das war für uns Anlass dafür, Hannah Arendt und die Künste zusammenzubringen. Nicht zur Politisierung der Kunst oder zur Illustration der politischen Theorie, sondern zur wechselseitigen Öffnung unterschiedlicher Weisen der Auseinandersetzung mit unserer Welt.

"Wenn die Dichtung, und nicht die Philosophie, verabsolutiert, ist Rettung da.", notierte Arendt in ihr Denktagebuch.

Ihr Werk kann wie kaum ein anderes Werk der politischen Theorie aus sich selber heraus tönen.

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